Eine Europaschule leitest du nicht,
ohne den Integrationsgedanken im Gepäck
In den letzten Jahren ist an Deutschlands Schulen das Thema Integration naturgemäß immer weiter in den Fokus aller Beteiligten gerückt. Auf die Frage warum genau das so sei, sagt Judith Lehnert, sympathische und dynamische Chefin der Freiherr-vom-Stein-Schule in Hünfelden-Dauborn, dass sie und ihr Kollegium sich, wie alle anderen Schulen auch, durch den Krieg in der Ukraine vor der besonderen Herausforderung sähen, ukrainische Geflüchtete verschiedenen Alters in der Schule aufzunehmen und zu integrieren. Als Europaschule habe die Freiherr-vom-Stein-Schule den Auftrag, besonders den Aspekt der Interkulturalität und das Kennenlernen verschiedener Kulturen und deren friedliches Zusammenleben zu fördern und umzusetzen, sagt sie.
Judith Lehnert, Chefin der Freiherr-vom-Stein-Schule in Hünfelden-Dauborn am Eingang zu ihrem Büro.
Foto: Katja Peteratzinger
Der Begriff Integration bedeutet Vielfalt
Integration bezieht sich auf den Prozess, bei dem Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, Sprachen und Traditionen in eine Gesellschaft eingegliedert werden. Ziel ist es, eine harmonische und gleichberechtigte Zusammenarbeit und Zusammenleben zu ermöglichen. Integration erfordert von allen Beteiligten Offenheit, Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen. Judith Lehnert sagt, „der Begriff Integration bedeutet für mich, die Vielfalt der Nationalitäten und Kulturen wahrzunehmen und diese zu tolerieren und zu akzeptieren und den Menschen, dann auch die Möglichkeit zu eröffnen, an gesellschaftlichem Leben teilzuhaben und mitzuwirken“.
Jeder hat für Judith Lehnert und ihre Mitarbeitenden und Schüler:innen mit Integration zu tun. Das ist Alltag an der Schule. „Ich bzw. wir an der Hünfeldener Freiherr-vom-Stein-Schule nehmen
Die Freiherr-vom-Stein-Schule in Hünfelden-Dauborn in der Außenansicht. Aufgenommen im Herbst 2022.
Foto: Katja Peteratzinger, Hünfelden
Zugewanderte oder Geflüchtete in großer Zahl auf. Dazu gehört auch der intensive Kontakt mit den Eltern. Danach überlegen alle gemeinsam, wie die Integration der Betroffenen am besten gefördert werden kann“.
Seit 2002, also mehr als zwanzig Jahre ist die 56-jährige Mutter einer erwachsenen Tochter aus Villmar-Langhecke nun schon mit dem Thema Integration befasst. Alles begann an der Grundschule Weilmünster, einer Station ihrer Laufbahn. Dort sei damals das Schulleben schon vielfältiger gewesen, sagt sie. Das habe sich aber inzwischen verändert. Integration müsse gelingen, sagt Judith Lehnert, um den Menschen alle Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe zu ermöglichen. Dies habe auch nicht unerhebliche wirtschaftliche Faktoren und trage aber vor allem zu friedlichem Miteinander und sozialem Frieden bei. „Deshalb muss das noch viel stärker in den Blick genommen werden, damit sich keine Parallelwelten entwickeln“, meint Judith Lehnert. Letztere entstünden nicht nur auf Seiten der Migrantinnen und Migranten, sondern auch in Teilen der deutschen Gesellschaft. „Ich denke da an die Reichsbürger-Bewegung oder die Corona-Impfgegner“, so die Chefin der Freiherr-vom-Stein-Schule.
Integration sei aber auch schon häufig gelungen. „Mit den entsprechenden individuellen Unterstützungsmaßnahmen haben einige Geflüchtete schon hervorragende Abschlüsse bei uns gemacht und befinden sich auf dem Weg in ein Hochschulstudium“, sagt Lehnert. Dazu benötige es allerdings ausreichend Ressourcen, aber auch den Mitwirkungswillen der Lernenden und deren Familien. Sei die nötige Grundhaltung auf beiden Seiten gegeben und genügend Geld und Personal vorhanden, so könne Integration sehr gut gelingen. Es wäre wünschenswert, so die Direktorin einer 1000-Schüler-Europaschule, dass sich verstärkt auch weitere Institutionen wie Sozial- und Jugendamt einbrächten. Verlässlich abrufbare Übersetzer:innen wären zudem hilfreich. Auch sollten die Klassengrößen gedeckelt werden, meint sie, wenn eine große Zahl Kinder, integriert werden müsse.
Die dynamische Schulleiterin ist bei der Frage, wie Integration in ihrem Umfeld gelänge, jetzt so richtig in Fahrt. Sie sagt, der Spracherwerb stelle eine Schlüsselkompetenz dar. Allerdings fehle es bei der aktuellen Lage leider oft an gut weitergebildeten Lehrkräften. Diese müssten die entsprechenden Zusatzqualifikationen neben ihrer eigentlichen beruflichen Tätigkeit erwerben. Dies sei für viele schon sehr herausfordernd.„Die Rolle der Integrationshelfenden nimmt für uns als Schule eine wichtige Rolle ein“, sagt sie. „Leider haben wir nicht zu allen einen schnellen und unkomplizierten Kontakt. Oft sind diese Menschen ja ehrenamtlich tätig. Durch eine ausreichende Würdigung ihrer Arbeit und ggfls. auch durch mehr Aufwandsentschädigungen könne deren Rolle weiter gestärkt werden.
Schülerinnen und Schüler der Freiherr-vom-Stein-Schule Hünfelden im Auslandspraktikum in Frankreich. Diversität ist hier an der Tagesordnung und als Erfahrung für die jungen Schüler:innen von unschätzbarem Wert.
Foto: Freiherr-vom-Stein-Schule, Hünfelden
Was macht zugewanderte Menschen erfolgreich in unserem Land?
Sie sind m. E. dann erfolgreich bei uns in Deutschland, wenn es ihnen gelingt, unsere Sprache zügig zu erlernen, um damit einfacher in Kontakt mit anderen Menschen treten zu können. Wenn sie es dann auch noch schaffen, Abschlüsse zu erwerben bzw. ihre Ausbildungen und Berufe anerkannt zu bekommen, dann können sie beruflich tätig werden und sind nicht von irgendwelchen Sozialleistungen abhängig. Wichtig sei auch, dass sie Akzeptanz erführen, wie etwa die Würdigung ihrer eigenen Kultur und Herkunft. Sie brauchen wertschätzende und ehrliche Unterstützung, auch Nachbarschaftshilfe. Es darf keine Ghettoisierung stattfinden, so Judith Lehnert.
Inklusive Intensiv-Kochklasse
Foto: Freiherr-vom-Stein-Schule, Hünfelden
Was bedeutet der Begriff Heimat für dich?
Darauf antwortet Judith Lehnert sehr direkt. „Heimat bedeutet für mich tatsächlich mein kleiner Ort Langhecke im Taunus in Hessen. Hier bin ich aufgewachsen und lebe dort mit meiner Familie. Meine Eltern leben ebenfalls dort. Die weitere Familie in den umliegenden Orten. Ich engagiere mich ehrenamtlich für die katholische Kirche und fühle mich hier wohl. Dies alles zusammen ist Heimat für mich“. Und dann sagt sie noch, „Glück ist für mich, so leben zu können, wie ich es kann. Dafür bin ich sehr dankbar. … Und dass wir seit so langer Zeit in Frieden leben können…“.
Schulbank drücken. Judith Lehnert auf einer Bank hinter dem Schulgebäude ihrer Freiherr-vom-Stein-Schule in Hünfelden-Dauborn
Foto: Katja Peteratzinger, Hünfelden
In ihrer Freizeit besucht Judith Lehnert gerne Konzerte und Museen. Sie liebt Waldspaziergänge und Gartenarbeit. Schön sei es außerdem für sie, sich mit Freunden zu treffen. Sie mag italienische Küche, ihr Lieblingsbuch ist „Der Gesang der Flusskrebse“. Zu ihren Lieblingsorten zählt Judith Lehnert ihre Hollywoodschaukel im Garten, dann wenn die Rosen blühen. Eine der interessantesten Antworten auf die Frage, für welches Land sie sich entscheiden würde um dort zu leben, wenn sonstige Umstände keine Rolle spielten, erhielt ich von Judith Lehnert. „Ich glaube ich würde mich tatsächlich für Italien entscheiden. Den Gardasee oder auch die Toskana, auf jeden Fall in See- oder Meernähe. Aber nur für längere Auszeiten. Generell liebe ich es schon sehr, hier in meiner Heimat zu leben“.
Der Garten von Judith Lehnert ist ihr Rückzugsort. Hier findet sie Entspannung, Ausgleich bei der Gartenarbeit und Raum zum Relaxen mit Ehemann, Tochter und Freunden. Foto: Judith Lehnert privat
Wie stellst du dir die Zukunft Deutschlands vor, wenn es um Integration geht? Wie deine persönliche Zukunft? Was wünschst du dir?
Für die Zukunft Deutschlands in Bezug auf Integration wünsche ich mir, dass die Wichtigkeit des Themas und dessen Potentiale nicht aus den Augen verloren wird. Weiterhin muss dafür gesorgt werden, dass Integration so gut gelingt, dass die erfolgreichen Biografien gesehen werden können und nicht immer nur das Negative in den Blick genommen wird. Dafür schätze ich deine Interview- und Porträtserie sehr.
Meine persönliche Zukunft sehe ich in der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Freiherrvom-Stein-Schule Hünfelden als Europa- und Umweltschule und damit verbunden die optimale Förderung der Kinder und Jugendlichen in ihrer Vielfalt. Für mich ganz persönlich hoffe ich, weiterhin gesund zu bleiben und mit meiner Familie und Freunden noch viele schöne Zeiten erleben zu dürfen. Dafür wünsche ich mir aktuell vor allem Frieden für die vielen Konfliktherde in unserer Welt.
Der Leitspruch Freiherr vom Steins ziert die Jubiläumsbroschüre der Schule, die im letzten Jahr zum 50-jährigen Bestehen entstanden ist. "Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen". "Dem werden wir gerecht", sagt Judith Lehnert, "denn Zutrauen vermitteln wir auch unseren jungen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund."
Text: Katja Peteratzinger
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